Wie kann es zu unterschiedlichen Handlungsmaximen kommen?
Disclaimer: Für alle hier vorgebrachten Aussagen und Annahmen wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Dieses Wiki, wie das Projekt insgesamt, ist „Work in Progress“. Wir heißen konstruktive Kritik und inhaltliche Hinweise oder Ergänzungen herzlich willkommen, um unsere Arbeit und damit das Projekt COMPPRESS stetig zu verbessern. Gern nehmen wir über info@comppress.org oder über Github Ihr Feedback entgegen.
Die Medienproduktion wird als „Doppelinstitutionalisierung“ beschrieben, da Medienprodukte gleichzeitig sowohl ein Kulturgut als auch ein Wirtschaftsgut darstellen. Während Medienprodukte als Kulturgut, mit dem Ziel entworfen, hergestellt und verbreitet werden (sollten), die ideellen Aufträge gesellschaftlicher Information, Meinungsbildung, Kontrolle und Unterhaltung zu erfüllen, müssen Medienprodukte als Wirtschaftsgüter sich vor allen gewinnbringend auf dem freien Markt verkaufen lassen. Sie müssen also mit dem Ziel einer guten Marktfähigkeit hergestellt werden. Aus diesen beiden „Institutionalisierungen“ ergeben sich demnach zwei unterschiedliche Wertesysteme mit unterschiedlichen Zielen auf dem selben Markt. 1
Mit der Tatsache, dass Medienprodukte auch Wirtschaftsgüter darstellen, geht einher, dass ihre Produktion und ihre Vermarktung zumindest zum Teil den Gesetzten des Marktes unterworfen sind. Allerdings sind Medienprodukte u.a. durch Nichtrivalität im Konsum und Versagen des Marktausschlussprinzips gekennzeichnet: „Nicht-Ausschließbarkeit von Marktteilnehmern als angebotsseitiges Argument sowie Nicht-Rivalität im Konsum als nachfrageseitiges Problem machen eine marktmäßige Kostendeckung von solcherart Medien grundsätzlich schwierig.“ 1
Werbung als zusätzliche Einnahmequelle
Seit dem Aufkommen der Massenmedien, also bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sind Werbeeinnahmen die wichtigste Finanzierungsquelle der privaten Medienproduzenten neben den Erlösen durch direkte Verkaufszahlen. In Noam Chomskys und Edward S. Hermans „Propagandamodell“ wird vorgebracht, dass Medienproduzenten sich, aufgrund der historischen Marktentwicklung, in struktureller finanzieller Abhängigkeit von Werbe-Auftraggebern befinden.
Zu Beginn des unternehmerischen Verlagswesens von Massenmedienangeboten, brachten Werbeeinnahme einen deutlichen Ressourcen-Vorteil gegenüber jenen Medienproduzenten, die keine Werbeeinnahmen als zusätzliche Einnahmequelle nutzten. Mit dem gesteigerten Umsatz konnte eine höhere Auflage erreicht werden. Diese führte wiederum zu einem höheren Umsatz durch Verkaufszahlen und sicherte den Unternehmen so einen Marktvorteil. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit für alle Unternehmen, ebenfalls ihre Einnahmen durch Werbung zu steigern, um eine höhere Auflage zu erzielen und weiterhin marktfähig zu sein. Die Folge war ein Finanzierungsequilibrium der Medienproduzenten, in dem keiner der Beteiligten ohne die Schaltung von Werbung konkurrenzfähig bleiben kann. 2
Noam Chomskys Analysen des nordamerikanischen Medienmarktes der 80er und 90er Jahre zeigen eindeutige Hinweise darauf, dass indirekte Abhängigkeiten zu Werbeschaltenden bestanden bzw. bestehen und das Modell auf andere demokratische Systeme mit privatwirtschaftlich organisierten Massenmedienmärkten „anwendbar“ ist – u.a. auf Deutschland.3 Dabei betonen Chomsky und Herman, dass sie nicht von einer direkten Verschwörung oder direkten Einflussnahme einzelnen Akteure ausgehen, sondern von einem Produkt ökonomischer und politischer Zwänge.2
Das Entscheidende daran ist ebendieser Zwang – das Strukturelle: Rein potenziell haben die Auftraggeber der geschalteten Werbung durch den Entzug ihres Auftrags die Möglichkeit, ökonomischen Druck auf ein Medienunternehmen auszuüben.
Auch in zeitgenössischeren Analysen wir der indirekte Einfluss der Werbung auf den Medieninhalt als stark eingeschätzt. Der konkrete Inhalt eines Medienprodukts ist für die Werbeindustrie prinzipiell von wenig Interesse, solange der Inhalt sich nicht negativ auf die Werbewirkung auswirkt. Zusätzlich wirkt sich Werbung auf die Medieninhalte aus, indem seitens des Auftraggebers besondere Zielgruppen der Werbe-Schaltung erreicht werden sollen. Es kann also der Anspruch an die Medienunternehmen erhoben werden, sie sollen Inhalte vermitteln, die die Aufmerksamkeit der gewünschten Zielgruppe erregt und halten kann. Wenn das Medium auf die Werbefinanzierung angewiesen ist, kann dies über die Zahlungsbereitschaft als Druckmittel theoretisch durchgesetzt werden. Auch hier ist jedoch zu beachten, dass dies keine These der direkten und konkret (politischen) Einflussnahme auf mediale Inhalte ist. Der Einfluss ist weniger intentional und direkt, sondern erfolgt indirekt, strukturell und langfristig über die ökonomischen Ziele des Werbemarktes. 4
Marktteilnehmer und ihr Einfluss auf das Angebot
Der große Anteil der Finanzierung durch Werbeeinnahme schwächt zudem die Position der Medienkonsumenten auf dem Medienmarkt. Grundsätzlich sind Konsumenten als ökonomische Akteure davon abhängig, wie viel Marktmacht sie haben bzw. inwieweit ihre Präferenzen am Markt „Gehör finden“. Bei werbefinanzierten Medien sind die Medienkonsumenten jedoch nicht mehr die alleinigen Marktpartner für den Produzenten und auch nicht mehr die einzigen, deren Präferenzen Marktbedeutung haben. Inhalt und Vielfalt des Angebots oder der Zeithorizont eines Diskurses zu bestimmten Themen können in einem Markt mit Anteiligen Werbefinanzierung auch auf die Kriterien bestimmter werberelevanter Zielgruppen oder mit alleinigem Fokus auf große Reichweiten erstellt werden. Medienkonsumenten, die für die Werbung uninteressant sind, haben in diesem Fall keine Möglichkeit ihre Präferenzen durchzusetzen, da ihre Marktmacht eingeschränkt ist.4
Vertrauensgüter
Die Marktposition der Medienkonsumenten ist jedoch grundsätzlich auch bei Medien, die ohne Werbefinanzierung auskommen, im Vergleich zum Verbraucher in der klassischen ökonomischen Theorie sehr eingeschränkt. Medienkonsumenten unterliegen grundsätzlich einer Unkenntnis über die Qualität des konkreten Produkts, welches sie kaufen. Für Medien gibt es keine objektiven Qualitätsstandards, in der selben Weise, wie es sie für die meisten Produkte gibt, nach denen die konkreten Angebote ausgewählt werden könnten. Zusätzlich führt auch der permanente Innovationszwang von informierenden Medieninhalten zu Unsicherheit. Schließlich wissen weder die Medienproduzenten in welchem Ausmaß neue Informationen bereitstehen werden, noch wissen die Medienkonsumenten, ob es sich um Neuheiten handelt, die für sie von Interesse sind. Medienkonsumenten können schwer etwas auswählen oder von etwas Abstand nehmen, von dem sie noch nicht wissen. Erst durch Erwerb und Nutzung eines Medienprodukts kann der Konsument seinen Nutzen oder seine Qualität feststellen. Es handelt sich um sogenannte Vertrauensgüter.4 Die Marktpartnerschaft mit einem Produzenten, auf dem nur Vertrauens- bzw. Erfahrungsgüter gehandelt werden, beinhaltet eine Informationsasymmetrie zu Lasten der Medienkonsumenten gegenüber den Produzenten.1
Besonderheit Online-Journalismus
Die Tatsache, dass Konsumenten die Medienprodukte nicht einschätzen können, bevor sie sie konsumieren, ist auf dem Online-Markt verstärkt. Im Gegensatz zu den analog verbreiteten Medienprodukten, wird online die finanzielle Entlohnung für Werbeanzeigen an den Besuchen pro Seite gemessen (Page Views). Das bedeutet, dass ein z.B. Online-Zeitungsartikel bereits mit dem Aufrufen der Seite vom Konsumenten finanziell entlohnt wird. Vor dem Aufruf kann nur der Titel eines Artikels eingesehen werden, während im klassischen Printgeschäft vor dem Konsum die z.B. Zeitung und der Inhalt vor dem eigentlichen Kauf zumindest eingeschätzt werden kann. Auf dem Online-Markt ist jeder Klick in der Regel bereits ein Kauf. Dies schwächt die Marktposition der Medienkonsumenten zusätzlich.
Folgen
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Medien als Kulturgüter, (idealerweise) ihrem ideellen Auftrag entsprechen, während in der Konzeption und Produktion von Medien als Wirtschaftsgüter andere Motive oder Werte die ausschlaggebende Rolle spielen.
Bei großer und wachsender Bedeutung der ökonomischen Wirkmechanismen wird auch von „Ökonomisierung“ gesprochen. Einhergeht die Befürchtung, dass die gesellschaftlichen Funktionen des Kulturguts damit nicht mehr erfüllt werden (können).1
Als Wirtschaftsgüter, die im hohen Maße von den Einnahmen über Werbeanzeigen abhängig sind, wird bei der Vermarktung von Medienprodukten „eine Refinanzierung über den „Verkauf“ der generierten Aufmerksamkeitsströme [angestrebt]“5. Dies kann dazu führen, vor allem im Online-Markt, dass vermehrt Medienprodukte generiert werden, die dazu designt sind, vor allem viel Aufmerksamkeit zu erzeugen – um möglichst viel gekauft zu werden – im Gegensatz zu dem, was ein Medienprodukt als Kulturgut sein sollte. Folgen dessen können zum Beispiel sein:
– Medienprodukte werden auf den Markt gebracht mit fälschlich reißerischen Titeln und ausgestattet mit wenig folgendem Inhalt, um Web Traffic zu erzeugen (Clickbait);
– Es wird ggf. weniger über Missstände berichtet, die mit Werbe-Auftraggebern in Verbindung gebracht werden könnten;
– Über Themen, die bestimmten Zielgruppen gefallen sollen wird berichtet, anstatt, dass z.B. über Themen von gesellschaftlicher Relevanz berichtet wird;
– Die Länge und damit die Tiefe der Analyse von z.B. Zeitungsartikeln reduziert sich insgesamt, da ein längerer, ausführlicherer Artikel keinen neuen Web Traffic generieren würde.
– Die inhaltliche Qualität im Sinne der eigentlichen Aufgaben der Medien wird reduziert.
Quellen:
1. Haselwander, Peter (2015): Alternative Medienfinanzierung über Crowdfunding. Magisterarbeit, Universität Wien. Fakultät für Sozialwissenschaften. Abgerufen unter http://othes.univie.ac.at/39046/
2. Noam Chomsky’s Manufacturing consent: the political economy of the mass media. (2002)
3. Pedro-Carañana, Joan, et al., editors. “Front Matter.” THE PROPAGANDA MODEL TODAY: Filtering Perception and Awareness, vol. 8, University of Westminster Press, London, 2018, pp. i-vi. JSTOR, www.jstor.org/stable/j.ctv7h0ts6.1. Accessed 14 Aug. 2021.
4. Kiefer, Marie Luise und Steininger, Christian (2013): Medienökonomik, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Abgerufen über https://doi.org/10.1524/9783486859263
5. Rau, Harald (2014): Digitale Dämmerung: die Entmaterialisierung der Medienwirtschaft. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos: In Haselwander 2015.